
Sächsische Zeitung
Donnerstag, 18. Oktober 2007
So kommt der Krach ins Ohr
Von Katlen Trautmann
Warum schädigen Silvesterknaller das Gehör ausgerechnet bei Frequenzen von vier Kilohertz? Warum fallen bei chronischer Lärmbelastung zuerst die hohen und bei Morbus Meniére die tiefen Frequenzen aus?
Phänomene wie diese können Forscher derzeit zwar beschreiben, aber nicht schlüssig beantworten. Das liegt an Wissenslücken über unsere Ohren. Der grundsätzliche Aufbau des Innenohrs gilt seit Langem als bekannt. Doch die genaue Arbeitsweise und das Zusammenspiel der einzelnen Teile werfen noch erstaunlich viele Fragen auf. Denn unbekannt ist der exakte Weg, auf dem sich akustische Wellen ihren Weg zum Gehirn bahnen.
Eine winzige Komponente im Ohr, das sogenannte Corti-Organ, bildet die Schnittstelle zwischen den akustisch-mechanischen Schwingungen und den elektrischen Nervensignalen in der Hörschnecke. „Die Mikromechanik des Corti-Organs ist insgesamt ungeklärt“, erläutert Privatdozent Thomas Zahnert, Leiter der Hals-Nasen-Ohrenklinik der Universitätsklinik Dresden. Gemeinsam mit Forschern aus Tübingen wollen Wissenschaftler der Technischen Universität Dresden (TU) ein Computer-Modell des Innenohrs mit strukturdynamischen und strömungsmechanischen Eigenschaften erstellen.
Deutschlandweit einzigartig ist dabei die interdisziplinäre Zusammenarbeit. In dem 20-köpfigen Team arbeiten Festkörpermechaniker, Hals-Nasen-Ohren-Spezialisten, Mitarbeiter vom Institut für Luft- und Raumfahrttechnik sowie Forscher des Hörzentrums Tübingen mit.
Schwingende Sinneshärchen
Die Wissenschaftler erhoffen sich Hinweise auf Schwachstellen im Gehörapparat und Krankheitsursachen. Perspektivisch geht es um das Schaffen verbesserter Implantate, die Teile der Hörschnecke zu ersetzen vermögen. Patienten mit angeborener Taubheit könnten davon profitieren. Bei ihnen erweist sich die Hörschnecke nicht selten als fehlerhaft.
Eine Hörschnecke besteht aus drei mit Flüssigkeit gefüllten Gängen sowie dem Corti-Organ. In diesem sind beim Menschen etwa 15000 Haarzellen in drei Reihen angeordnet. An den Haarzellen schwingen winzige, V-förmig angeordnete Sinneshärchen (Stereozilien). Sie zeichnen für das Weiterleiten von Signalen in Richtung Hirn verantwortlich. Die Wissenschaftler wollen neben anderen Fragen das Verhalten dieser Stereozilien in der strömenden Flüssigkeit mit einem Modell beschreiben.
Aktuelle Thesen gehen davon aus, dass sich die mechanischen Signale in elektrische mithilfe eines Ladungsausgleichs zwischen unterschiedlich geladenen und voneinander abgegrenzten Flüssigkeiten wandeln. Der Ausgleich erfolgt über Kanälchen. Die Auslenkung der Stereozilien öffnet oder schließt diese Kanäle.
Die Fachleute vom TU-Institut für Festkörpermechanik werden untersuchen, wie genau sich die akustisch-mechanischen Wellen zu elektrischen Signalen wandeln. Im Kern geht es darum, was in der Flüssigkeit passiert. „Es handelt sich um ein gekoppeltes Feldproblem“, drückt es Professor Hans-Jürgen Hardtke von der Fakultät Maschinenwesen wissenschaftlich aus.
Bewegungen in Nanometern
Mehrere Umstände erschweren die Untersuchungen. Die Messungen zu Stereozilien und ihre Bewegungen finden in Bereichen weniger Nanometer statt. Ein Nanometer ist der millionste Teil eines Millimeters. So beträgt die Auslenkung der feinen Härchen nur rund 30Nanometer.
Die Methode der Finiten Elemente, ein mathematisches Verfahren zur näherungsweisen Lösung, dient als Rechenmodell. Die Forscher rechnen mit Messwerten, die an Teilen des Innenohrs von Meerschweinchen gewonnen werden. „Die Ergebnisse lassen sich teilweise auf den Menschen übertragen“, bestätigt Zahnert. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert das Vorhaben als Verbundprojekt zunächst bis 2009. Danach soll nach dem Willen der Wissenschaftler eine DFG-Forschergruppe daraus werden.
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