Sächsische Zeitung, 4. Februar 2008

Sächsische Zeitung
Montag, 4. Februar 2008
Deutsche werden maßgenommen
Von Katlen Trautmann
Die aktuellen Konfektionsgrößen passen hinten und vorn nicht mehr.
Die Ärmel sind zu kurz, die Hosenbeine zeigen Hochwasserpegel, die Schulterpartie spannt und der Bund kneift: Männer haben es schwer beim Kleiderkauf.
Schuld am Frust bei der Suche nach passenden Sachen von der Stange ist eine veraltete Datengrundlage der Bekleidungshersteller. Die gültigen Körpermaßtabellen für das starke Geschlecht beruhen auf Daten aus den 1960er Jahren. „Seither sind die Deutschen größer und hüftstärker geworden“, sagt Martin Rupp vom Textilforschungszentrum der Hohensteiner Institute (Bönnigheim, Baden-Württemberg). Für die Damen liegen zwar aktuellere Daten vor. Bei beiden Geschlechtern ist ein Trend zu immer ausladenderen Körperformen aber ungebrochen.
Bessere Lebensmittel
„Es ist klar, das gerade jüngere Männer Probleme haben, gut sitzende Kleidung zu finden. Sie sind ja im Schnitt sechs Zentimeter größer als ihre Großväter“, bemerkt Rupp. Die Schnittkonstruktionen indes wuchsen nicht mit. In den zurückliegenden 130 Jahren schoss der männliche Durchschnittsdeutsche rund 16 Zentimeter in die Höhe, belegen Vergleiche bei Messungen an Wehrpflichtigen seit 1875.
Die westdeutschen Männer wurden zwar 1976 vermessen. Weil sich die Branche nicht über eine neue Größensystematik einigen konnte, blieben die Daten in der Schublade.
Frauen sind derzeit im Vorteil. Ihre Kleider werden nach Messungen von 1994 geschneidert. Aber seither wurden Frauen deutlich größer und vor allem schwerer, heißt es. „90–60–90“ gibt es kaum mehr. Die Modelmaße aus dem Reich der Männerträume gehen an den echten Frauen komplett vorbei. „Frau Durchschnitt“ trug 1994 über ihrer Hüfte von 101 Zentimetern eine Taille von 81Zentimetern und einen Brustumfang von 96 Zentimetern spazieren. Fünf Jahre später war sie schon gewichtiger: Zu einer 104-Zentimeter-Hüfte kombinierte sie 84Zentimeter Taille und 100 Zentimeter Oberweite.
„Die Lebensmittel sind besser als vor 30 Jahren. Die Menschen essen mehr und arbeiten körperlich weniger“, erklärt Professor Elmar Schlich von der Justus-Liebig-Universität Gießen die Tendenz. Besseres Essen bedinge vertikales und horizontales Wachstum. „Ein Ende ist derzeit nicht in Sicht.“ Er hält es immerhin für möglich, dass kleinste Beimischungen im Trinkwasser – Antibiotika, Hormone – Einfluss nehmen. Der Professor für Prozesstechnik untersucht anhand anonymisierter Datensätze aus der Studie, ob Korrekturen bei der Berechnung des Body-Mass-Indexes nötig sind – jener Messzahl, die sich aus dem Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch die Körpergröße in Metern zum Quadrat berechnet. Zudem erforscht Schlich, wie die Wärmeregulation eines Körpers mit dessen Oberfläche zusammenhängt.
Um genau zu sein: Länger wird im Laufe der Jahre nur die junge Generation. Menschen über 60 „schrumpfen“ oft wieder, belegt eine andere Hohensteiner Studie. Die menschlichen Bandscheiben werden mit der Zeit zusammengepresst, weil sie weniger elastisch sind. Wieder ist es nix mit passenden Kleidern von der Stange. Die Standardkonfektionsgrößen passten 1994 gerade mal jeder fünften Frau.
Europäisches System
Die neue Reihenmessung „Sizegermany“ setzt dem Durcheinander ein Ende und sammelt nun die Maße von 12000 Deutschen. Das Textilforschungszentrum Hohensteiner Institute betreut mit der Firma Human Solutions das Vorhaben und setzt dabei auf sogenanntes Bodyscanning. Das berührungsfreie Verfahren erfasst mit dem dreidimensionalen Scanner binnen weniger Sekunden mehr als zwei Millionen Messpunkte, die per Computer zu virtuellen Körpermodellen verarbeitet werden. Probanden stehen dafür in einer Art Messzelt. Beim Vermessen von beispielsweise „Taille–Schritt–Taille“ macht sich das digitale Verfahren für Beteiligte deutlich angenehmer als andere Methoden.
Neben der Textilindustrie und dem Handel ist auch die Automobilbranche Auftraggeber der Reihenmessung. Die Autohersteller brauchen Werte, um Sitze, Lenkräder und Armaturen richtig zu justieren. Das Projekt tourt durchs Land und legt im April im Institut für Textil- und Bekleidungstechnik der Technischen Universität Dresden Station ein.
Noch 2008 wollen die Hohensteiner Institute neue Körpermaßtabellen und eine Analyse der Marktanteile für verschiedene Kleidergrößen vorlegen. Die Ergebnisse von „Sizegermany“ fließen zudem in ein europäisches Bekleidungsgrößensystems ein.