Ärztezeitung, 23. Februar 2009
"Ich verschenke meine Praxis"
Am Ende des Jahres werden mehr als 40 Jahre Berufsleben hinter Seidel liegen. Wenn er zurückschaut, sieht er Berge von Arbeit. "Ich dachte, es wird mal weniger", sagt der Mediziner. Bisher kam es dazu nicht. Fünf Tage die Woche öffnet der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin noch immer die Praxis im Neubaugebiet Gera-Lusan für seine kleinen Patienten. Unter sechs Stunden Arbeit geht es nicht ab. "In Lusan arbeiten drei Pädiater. Wir teilen uns die Kinder", berichtet Seidel.
Manche der heutigen Eltern saßen schon als Knirpse in seiner Sprechstunde. Vor 30 Jahren kam Seidel in das Plattenbauviertel. Mit 37 000 Einwohnern hatte das Quartier damals Maße einer Kleinstadt. "Jedes zweite Paar hatte ein Kind, nur ein weiterer Kollege arbeitete mit", erinnert sich der Kinderarzt. Er beklagte sich nicht. Lusan bot die Chance, mit seiner Ehefrau in einer Stadt arbeiten zu können.
Die alte Praxis existiert längst nicht mehr. Nach der Wende bezog Seidel zusammen mit einer Neurologin neue Räume auf einer Arztetage über einem Einkaufszentrum. "Die Kinderzahlen im Stadtviertel sind nicht gesunken. Es gibt hier viele Spätaussiedler", schildert der Doktor die gegenwärtige Lage. 950 Scheine im Quartal bilden den Durchschnitt. Die Neurologin hat inzwischen aufgehört. Drei Räume der 145-Quadratmeter-Praxis stehen leer.
In Gera gibt es für einen Pädiater noch genug Kinder zu behandeln. Ein wenig Erleichterung gönnt sich der Kinderarzt am Ende seines Arbeitslebens. "Inzwischen konzentriere ich mich vor allem auf interessante oder besonders schwierige Fälle", sagte er. Das sind meist Patienten mit allergologischen oder neuropädiatrischen Problemen.
Seit seinem vollendeten 64. Lebensjahr sucht der Arzt einen Nachfolger. Er habe auf Jahrestagungen seiner Fachgesellschaft die Trommel gerührt, potenzielle Nachfolger angesprochen - alles vergebens. "Es ist den Kollegen wohl zu viel Arbeit hier. Vielleicht ist das Honorar zu niedrig. Möglicherweise haben sie auch andere Vorstellungen als ein Leben in einer Industriestadt wie Gera, die von Uran-Bergbau und der Elektroindustrie geprägt ist", sagt Seidel etwas resigniert. Die Unterstützung der KV Thüringen findet er eher lau. "Sie rührte sich nicht sehr. Ein Inserat - das war alles", so seine Kritik.
"So schnell wie möglich aufhören" lautet inzwischen der Wunsch des Kinderarztes. "Ich verschenke die eingerichtete Praxis, wenn jemand käme. Als Gegenleistung erwarte ich nur, dass er mein Archiv übernimmt", sagt der Arzt. Das soll Einlagerungsgebühren sparen helfen.
Die Zukunft seiner Arzthelferinnen liegt Seidel am Herzen. Er wünscht sich deshalb, dass sie weiter in der Praxis arbeiten dürfen. "Die schmeißen den Laden selbstständig. Ein Nachfolger müsste sich nicht um die Organisation kümmern. Ein sicheres Einkommen hat er auf jeden Fall."